Am 1. September, dem Antikriegstag, wurde in Marburg eine ganz besondere Installation eingeweiht. Unsere Vorstandsfrau Annegret, die in Marburg Friedens- und Konfliktforschung studiert, berichtet von ihren Beobachtungen vor Ort.
Seit 1923 steht im Ludwig-Schülerpark in Marburg ein Denkmal, das an die „Marburger Jäger“ erinnert. Nun hat es eine Stelenkonstellation mit dem Namen „Verblendung“ des Künstlers Heiko Hünnerkopf, die dieses Denkmal teilweise verdeckt, hinzubekommen. Damit wurde das ursprüngliche Denkmal in den heutigen Kontext gesetzt und damit ins heutige Jahrhundert geholt. Das Kunstwerk soll ein kritischer Kommentar zum Jägerdenkmal darstellen. Denn das heldenvolle Gedenken an die „Marburger Jäger“ ist nicht mehr zeitgemäß. Dies wird allzu deutlich, wenn frau*man sich die Liste der Taten dieser Jäger vor Augen führt. So haben sich Angehörige des Jäger-Bataillons Verbrechen schuldig gemacht, die heute als Kriegsverbrechen eingestuft werden. Eine eigens für das neue Denkmal in Auftrag gegebene Studie fand heraus, dass die „Marburger Jäger“ an der Zerschlagung der Pariser Commune 1871, an der Niederschlagung des „Boxer-Aufstandes“ in China 1900/1901, am Völkermord an den Herero und Nama im ehemaligen Deutsch-Südwestafrika (heute Namibia) 1904-1907, an der Erschießung von Zivilist*innen im belgischen Dinant 1914 sowie am Massaker an Arbeiter*innen im schlesischen Königshütte 1919 beteiligt waren. Angesichts dieser internationalen Auswirkungen des „Wirkens“ dieser Jäger kamen am Tag der Einweihung auch Vertreter*innen aus Frankreich und Belgien sowie eine Vertreterin der Herero und Nama als Ehrengäste zu Wort.
Gegen die Errichtung des neuen Kunstwerks ist die heute noch existierende „Kameradschaft der Marburger Jäger“ sogar gerichtlich vorgegangen, da damit angeblich ein „fast 100 Jahre altes Denkmal entwürdigt und entehrt“ würde. Sie konnten sich damit glücklicherweise nicht durchsetzen und somit ist „Verblendung“ auch ein Erfolg der (lokalen) Friedensbewegung.
Nun liegt der Fokus nicht mehr auf den angeblichen „Heldentaten“ sondern auf dem Gedenken der Opfer.
Dabei ist das Ziel der Installation, das bestehende Denkmal nicht zu überschreiben oder zu verdrängen, sondern es soll ein dialogischer Zusammenhang zwischen beiden Denkmälern zum Ausdruck gebracht werden. Die „Verblendung“ beschreibt dabei auch die ideologische Verblendung von Militarismus und Heldenmythos.
Dieses Kontextualisieren eines Denkmals ist ein vorbildliches Beispiel für eine Aufarbeitung der oftmals schmerzlichen deutschen Vergangenheit. „Verblendung“ soll ein Mahnmal gegen Militarismus und Intoleranz sein, aber allen voran soll damit den Opfern der Marburger Jäger gedacht und ein Denkmal gesetzt werden. Die Marburger Bürger*innen haben sich dabei in dem Prozess mit dem eigenen europäischen Kolonialismus auseinandergesetzt. Das kollektive kritische Erinnern ist eine Stärke und keine Schwäche und sollte gerade am Antikriegstag, an dem an die Folgen von Krieg, Gewalt und Faschismus erinnert wird, eine Mahnung an uns selbst sein. So erinnerte auch Frau Dr. Maximilian Jäger-Gogoll, ein Mitglied der Jury des Kunstwettbewerbs für die Erweiterung des ursprünglichen Denkmals, in ihrer Rede zur Einweihung daran, dass die „Struktur der kolonialen und imperialen Kriege, in denen die Marburger Jäger agierten“, nach wie vor die gleichen sind. Diese neokolonialen Strukturen zu hinterfragen sei heute aktuell und dringend notwendig.