Avraham Burg (59 J.), ehemaliger Berater von Shimon Peres, ehemaliger Vorsitzender der Jewish Agency und ehemaliger Sprecher der Knesset, Sohn des früheren israelischen Innenministers Josef Burg, aktuell Senior Fellow am Kreisky-Forum für Internationalen Dialog in Wien, hat in der israelischen Zeitung "Haaretz" am 3.2.2014 unter der Überschrift " Was ist falsch an Boykotten und Sanktionen" einen Artikel veröffentlicht, den die Österreichische Zeitung "Der Standard" am 16.2.2014 in deutscher Sprache übernommen hat.
Hier der Text im Wortlaut:
WAS IST FALSCH AN BOYKOTTEN UND SANKTIONEN?
Palästinenser setzen neuerdings auf gewaltlosen Widerstand statt auf bewaffnete Rebellion. Israel wird hilflos sein, wenn der Diskurs von Begriffen wie Stärke und Widerstandsfähigkeit auf die Ebene von Rechten und Werten wechselt.
Die Rede von Sanktionen geht um. Und wir Israelis sind, wie immer, überzeugt davon, dass die ganze Welt gegen uns ist (das ist psychonationaler Nonsens) und dass alle offenen wie verborgenen Verschwörungen dieser Welt ausschließlich auf uns zielen – aus Hass und natürlich Antisemitismus.
Nur wenige bemerken dabei das wunderbare Paradoxon, dass das offizielle Israel und die mobilisierten jüdischen Weltorganisationen die Geisel der Sanktionen bekämpfen, indem sie aufheulen und Antisemitismus schreien, während genau dieselben Leute im selben Atemzug jede Möglichkeit nutzen, um die Sanktionen gegen den Iran voranzubringen und zu verschärfen, so wie sie es bis vor kurzem auch gegen die Hamas getan hatten. Gleichzeitig versuchen sie in nützlicher diplomatischer Heuchelei alles, um Syriens Bashar al-Assad nicht zu schaden oder Ägypten oder einem anderen korrupten Ziel israelischer Außenpolitik.
Währenddessen aber kommt die palästinensische BDS-Bewegung (Boycott, divestment, sanctions, Anm.) in Schwung und erreicht langsam einen Wendepunkt, an dem eine Bürgerbewegung von unten auf die offizielle Politik von Regierungen und Parlamenten von oben trifft und Sanktionen gegen Israel zu einem Fait accompli macht. Israels Finanzminister gerät ob der ökonomischen Konsequenzen in Schwierigkeiten, während uns der amerikanische Außenminister vor internationaler Isolation zu schützen versucht. Forschungsinstitutionen planen bereits ihre Boykotte und Sanktionen, während sie Wege aufzeigen, um angemessene israelische Politik zu formulieren. Die Medien tragen ebenso ernst wie fieberhaft zur Diskussion bei. Zwischen all dem aber fehlt auffallend eine reale Debatte über den ethischen Sinn von Sanktionen und deren Alternative.
Ein Idiot oder kindisch.
Ich persönlich bin ein Mann des Dialogs und glaube, dass Boykott – jeder Boykott – niemals ein legitimes Mittel sein kann. Verlässt mein Premierminister den Raum, wenn der iranische Präsident zu sprechen beginnt, kann ich mich nicht entscheiden, ob er ein Idiot oder einfach nur kindisch ist. Klar ist aber jedenfalls, dass er mich auf keinen Fall vertritt. Ich glaube an den Frieden und ich habe keinen Zweifel, dass gezielter und echter Dialog mit den Palästinensern am Ende zwei Ergebnisse zeitigen wird: Frieden, und ein Ende der Boykotte, der Ächtung und Isolation, über die nun diskutiert wird. Dasselbe gilt auch für den Iran.
Aber diejenigen, die keinen Frieden wollen, oder ihn wollen und dem Partner nicht trauen, oder ihn wollen, dem Partner trauen, aber nicht den Mut haben, gegen die Feinde des Friedens unter uns aufzustehen, müssen sich einige Fragen gefallen lassen.
Es ist klar, dass es eine Verbindung zwischen diplomatischer Realität und deren ökonomischen Manifestationen gibt. Abgesehen von der Bösartigkeit und der Verrücktheit eines solchen Zuganges ist es zulässig, zu entscheiden, die besetzten Gebiete weiter zu halten, weil der Preis aus internationaler Isolation und dem Schaden für die Geldbörsen der Israelis dadurch zu diesem Zeitpunkt nicht abschreckend ist. Denn alles in allem ist nationale Politik eine konstante Balance aus Risiken und Nutzen, und derzeit – so sagen sie – seien diese Risiken tolerierbar.
Jeder andere allerdings – die politisch Impotenten oder auch bloß Indifferenten – bedarf eines anderen Zugangs. Versetzen Sie sich selbst für eine Minute in die Rolle der Palästinenser und versuchen Sie zu verstehen, was Israel ihnen "erlaubt" . Bedenken Sie, was Sie in deren Position tun würden. Eine gewalttätige Rebellion? Niemals! Das steht außer Frage, weil diese von einer noch gewalttätigeren Macht unterdrückt werden würde (es ist unleugbar, dass mehr Palästinenser von Israelis schuldlos getötet wurden als umgekehrt). Ein diplomatisches Abkommen? Damit haben Sie Naftali Bennetts Hinterteil und Benjamin Netanjahus verlorene Wahrnehmung zum Lachen gebracht. Also was dann? Nichts? Sollen sie nur Danke sagen und den Mund halten? Würden Sie an deren Stelle ruhig sein und bedingungslos kapitulieren?
Plötzlich erscheint die Boykottbewegung nicht nur als ein nervender Versuch, die Geldbörsen der Israelis zu treffen, sondern als ein mutiger und innovativer Versuch, echte diplomatische Fortschritte zu erzielen. Und zwar dort, wo Dialog und Lösungen dringend notwendig sind: dem Ende der Besatzung, dem Abbau des Trennungswalles, der Anerkennung der Rechte und der Gleichheit der palästinensischen Bürger Israels und der Lösung des Flüchtlingsproblems. Hier geht es um einen lokalen und internationalen Ausdruck einer völlig unterschiedlichen Ausformung des palästinensischen Kampfes. Um etwas Neues und Ungewohntes für uns – um gewaltlosen Widerstand.
Ist das auch verboten?
Im Vergleich zu dem, was unter all den genannten Alternativen herauskommt, sind Boykotte und Sanktionen noch am ehesten koscher. Repression ist schlecht, Gewalt noch schlechter. Gewaltloser Widerstand und unbewaffnete Volksaufstände nehmen sich im Gegensatz dazu ganz passabel aus.
Die Wahheit ist, dass nicht alle der ihren hinter dieser Methode stehen, wie nicht alle der unseren uns unterstützen, aber die vorgegebene Richtung ist klar, überzeugend und auch bedrohlich. Ich bin sicher, dass der taffe Staat Israel eine Antwort auf jede Art von Gewalt finden wird. Aber er wird hilflos sein, wenn er mit einer zivilen Rebellion konfrontiert ist, die den Diskurs von den Begriffen Stärke und Widerstandsfähigkeit zu Recht und Werten führt. Dazu fehlen uns die Antworten.
1000 spielende Kinder
Was werden die Politiker und Soldaten tun, wenn 1000 palästinensische Kinder mit ihren Bällen, Rädern und Kameras auf die für Palästinenser geschlossene Shuhada- Straße in Hebron kommen und dort vor ihren Häusern spielen wollen, so wie es andere Kinder überall auf der Welt als Grundrecht tun können? Was wird die Antwort sein, wenn die Eltern der 1000 Kinder mit Tausenden anderen an die Mauer des palästinensischen Ghettos (euphemistisch Sperrzaun genannt) kommen, um dort vor den internationalen Medien und unter Tränengasnebeln so lange Mahnwache zu halten, bis die Mauer fällt?
Die Antwort ist eindeutig: Am gleichen Tag wie Gewaltlosigkeit die offizielle Politik der Palästinenser wird, ist Israels gewalttätige Besetzungspolitik vorbei. Die derzeitige Hysterie über die Boykotte und Sanktionen kann dies bezeugen. (DER STANDARD, 17.2.2014)
Avraham Burg (59) war Politiker der israelischen Arbeitspartei und Sprecher der Knesset. Er ist Senior Fellow am Kreisky-Forum für Internationalen Dialog in Wien. Dieser Beitrag ist in "Haaretz" ersterschienen.